13
Auf dem mit Kies bestreuten Vorplatz stand nur der große BMW. Der Range Rover fehlte. Alle Vorhänge waren zugezogen. Nirgendwo brannte Licht. Das Haus schien verwaist. Willem drehte eine Runde über den Holland Walk, hinten am Haus vorbei. Dort derselbe Eindruck. Niemand war zu Hause. Er ging nochmals langsam durch Phillimore Gardens. Keine Veränderung. Er zwang sich, für zwanzig Minuten im Holland Park zu warten, unruhig hin und her wandernd. Dann ging er zurück. Wieder nichts. Die Hewitts waren verschwunden, ganz bestimmt. Sie waren sicherlich verreist. Und nicht nur für ein paar Tage. Vielleicht würden sie Wochen wegbleiben. In Willem keimte ein Funken Hoffnung. Vielleicht würde sich alles von selbst erledigen.
Er konnte nicht bis daheim warten, Nikita zu sprechen. Er rief ihn von einer Telefonzelle aus an, um ihm seinen Bericht zu übermitteln. Nikita reagierte gelassen.
»Versuch es morgen wieder. Hab noch einen schönen Abend!«
Er legte auf. Willem war enttäuscht. Nun gut, er würde morgen wieder nach den Hewitts sehen. Und sicherlich würde er Nikita nichts anderes sagen können.
Die Nachricht, die »Times« und »Daily Telegraph« mit fast gleich lautenden Überschriften in ihren Mittwochsausgaben brachten, ging Willem durch alle Glieder. »Hewitt ging Polizei im Kanal ins Netz« und »Polizei fischte Hewitt bei Dover raus«. Er zitterte am ganzen Körper.
Die Meldung in der »Times« lautete: »Henry Hewitt ist bei dem Versuch, mit seiner Familie England durch den Kanaltunnel zu verlassen, am späten Dienstagabend verhaftet worden. Er selbst erklärte, er habe mit seiner Frau, einer gebürtigen Französin, und der gemeinsamen Tochter Patricia an einer Familienfeier in einem Chateau an der Loire teilnehmen wollen. Es sei seine Absicht gewesen, am Wochenende wieder britischen Boden zu betreten, um sich in dem gegen ihn anhängigen Verfahren wegen Hehlerei und Schmuggelei von Kunstgegenständen von allen Vorwürfen rein zu waschen. Die britische Grenzpolizei wertete Hewitts geplante Reise dagegen als Fluchtversuch. Er wurde noch am selben Abend den Londoner Sicherheitsbehörden übergeben.«
Willems Puls flatterte. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Aber dennoch hätte er vor Freude an die Decke springen können. Nur die Blicke der anderen Gäste in seinem Stammcafé in South Kensington, die bereits sorgenvoll zu ihm herüber sahen, hielten ihn davon ab, die Zeitungen in der Luft zu zerreißen, auf den Boden zu werfen und mit Indianergeheul auf ihnen herumzutanzen.
Hewitt war hinter Gittern! Damit hatte sich alles endgültig erledigt. Hewitt hinter Gittern: Das müsste Pia und Nikita aufhalten. Jetzt müssten auch sie verstehen, dass es keinen Zweck mehr hätte weiterzumachen. Auch sie müssten einsehen, dass die Entführung damit geplatzt war.
Willem riss die beiden Seiten mit den Meldungen heraus. Er stand auf, warf ein paar Münzen für seinen Kaffee auf den Tisch und stürzte ins Freie. Hewitt hatte sich mit seinem stümperhaften Fluchtversuch selbst ausgeliefert. Er musste mit Pia und Nikita reden, sofort. Er musste ihnen sagen, was los war.
An einem Fernsprecher in der U-Bahn-Station South Kensington wählte Willem hastig Pias Nummer. Nur der Anrufbeantworter meldete sich. Er hinterließ keine Nachricht. Er versuchte es bei Nikita. Niemand hob ab. Pia musste aber zu Hause sein! Wahrscheinlich schlief sie noch und hatte deshalb den Anrufbeantworter angestellt.
Er fuhr mit der U-Bahn zur Bond Street. Vor Aufregung hätte er beinahe verpasst, in Green Park umzusteigen. Er rannte, so schnell er konnte, zur New Cavendish Street. Mit hochrotem Kopf und außer Atem kam er am Haus Nummer 54 an. Er drückte besessen auf den obersten Klingelknopf. Er wartete, drückte noch einmal. Nichts.
Ein Mann kam aus dem Haus. Willem stürzte über die Straße, schaffte es, im letzten Moment die sich schließende Tür aufzuhalten. Er sprang die Treppen hinauf, stolperte, rappelte sich wieder auf, stieg weiter. Willem pochte kräftig gegen Pias Wohnungstür. Es war keine Bewegung zu hören. Er ließ sich auf die Stufen fallen. Es half nichts. Er musste bei Nikita vorbei.
Willem rannte wieder los. An der Baker Street musste er über zehn Minuten lang auf den nächsten Zug warten. Zudem fuhr die City-Line beinahe gemächlich, jedenfalls langsamer als die anderen Linien. Willem ärgerte sich. Die andere Verbindung wäre umständlicher, aber wahrscheinlich schneller gewesen. Aber kam es wirklich auf fünf Minuten mehr oder weniger an? Jetzt, da sowieso alles vorbei war?
Willem klingelte bei Nikita einmal, zweimal. Jemand kam zur Tür.
»Hey, was für eine nette Überraschung?«
Die fette Amerikanerin griente Willem an. Sie trug nur ein unförmiges T-Shirt. Ihr langes Haar war zersaust. Sie schien gerade erst aufgestanden zu sein.
»Ist Nikita da?«, blaffte Willem sie an.
»Nein. Ich bin ganz allein.«
Die Dicke strengte sich an, verführerisch zu wirken.
Willem hätte die Fette ohrfeigen können.
»Weißt du, wann er zurückkommt?«
»Nein, wahrscheinlich erst am Abend. Aber was ist denn los? Du siehst ganz abgehetzt aus. Willst du nicht reinkommen?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Nein! Wirklich nicht.«
Willem zog sich zurück, ohne sich zu verabschieden. Hinter ihm knallte die Tür zu.
Er ging einfach drauflos. Er wusste nicht, wohin er ging. Er wollte einfach seiner Aufregung davon laufen, um dann sein Glück in aller Ruhe fassen zu können. Anstatt zur U-Bahn zurückzukehren, ging er weiter nach Westen, wandte sich irgendwo nach links, wanderte weiter geradeaus. Er konnte kaum etwas sehen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Hewitt war dort, wohin Willem ihn gewünscht hatte, im Gefängnis. Und genau zum richtigen Zeitpunkt, keinen Tag zu spät.
Er ließ sich erschöpft auf einer Bank an einer Bushaltestelle nieder. Hatte er keine Zigaretten dabei? Nein. Wo könnte er welche bekommen? Kein Geschäft, kein Pub war weit und breit zu sehen, nur hässliche Mietskasernen aus den sechziger oder siebziger Jahren mit schmuddeligen Gardinen. Ein paar Kinder kamen von irgendwoher angelaufen, umringten Willem, schossen auf ihn mit Wasserpistolen.
»Verschwindet, Bastarde! Ich sage, ihr sollt verschwinden!«
Die Kinder schossen weiter. Sein neuer Hackett-Pullover war auf der Brust schon völlig durchnässt. Die Kinder lachten ihn nur aus und spritzen munter weiter los. Willem sprang auf. Er brüllte los.
»Bastarde! Ich bringe euch um, wenn ich euch erwische!«
Er streckte die Hand nach einem kleinen schmutzigen Mädchen aus, das ihm erschrocken, aber lachend auswich. Zu Willems Rettung kam ein Bus. Er hob die Hand. Der Bus hielt an. Willem stieg ein, ließ sich am Ende seiner Kräfte auf einen Sitz fallen. Die Kinder schossen gegen die Fensterscheibe. Aber er war in Sicherheit. Warum hatte er sich eigentlich so aufgeregt? Es konnte nichts mehr passieren. Hewitt war hinter Gittern, wiederholte er immer aufs Neue.
Zu Hause stellte sich Willem unter die Dusche, ließ zwanzig Minuten lang heißes und kaltes Wasser über seinen bibbernden Körper laufen, legte sich dann auf die Couch. Nach einer Weile – er wusste nicht, wie lange er regungslos dagelegen hatte – zog er sich frische Sachen an, verließ wieder sein Appartement, diesmal Richtung Holland Park.
Der dunkelblaue Range Rover stand an seinem gewohnten Platz, der BMW auf der Straße. Kaum dass Willem das Haus der Hewitts passiert hatte, kam Patricia mit dem Hund heraus, allein. Also ging sie doch jeden Abend in den Holland Park, ohne Hewitt oder Anne-Marie. Aber wem könnte das etwas nützen? Jetzt nicht mehr. Hewitt saß im Gefängnis. Sie müssten ihren Plan aufgeben. Das müssten Pia und Nikita begreifen.
Die Zehn-Uhr-Abend-Nachrichten der BBC One blendeten ein Bild von Hewitt ein. Hatte er richtig gehört? Henry Hewitt ist wieder auf freiem Fuß? Er hörte den Sprecher nur noch sagen: »Es wurde eine Kaution von fünfhunderttausend Pfund festgesetzt.«
Eine halbe Stunde später schaltete Willem auf die »Newsnight« von BBC Two um. Es wurde zur Gewissheit. Henry Hewitt war wieder frei. Seine cleveren Anwälte hatten es wieder einmal geschafft. Aufgrund eines Formfehlers musste die Staatsanwaltschaft ihn laufen lassen. Nur eine Nacht hatte Hewitt im Gefängnis verbringen müssen. Willem schenkte sich ein randvolles Glas Whisky ein. Aber er war zu erledigt, um entsetzt sein zu können, zu kraftlos, um wütend zu sein. Alles würde von neuem beginnen.
Er musste mit Pia und Nikita reden. Es ging kein Weg mehr daran vorbei. Nikita hatte gesagt, er würde sich am Freitag melden. Am Wochenende wollten sie sich wieder sehen, das letzte Mal vor Montag, dem Tag der Entführung. Falls er Pia und Nikita nicht umstimmen könnte, würde er notfalls Anne-Marie warnen. Er hatte ja ihre Nummer. Er würde ihr sagen, dass jemand ihre Tochter entführen will, nicht er, sondern jemand anderes.
Willem stellte sich sogar vor, sich selbst Anne-Marie zu offenbaren, ihr alles zu sagen, dass er daran gedacht habe, Patricia zu entführen, um Hewitt zu schaden, dass er aber seinen Plan aufgegeben habe, sobald er sie gesehen habe. Könnte es einen größeren Beweis seiner Liebe geben? Aber sie würde es nicht verstehen. Niemals.
Der versprochene Anruf Nikitas blieb am Freitag aus. Sollten Pia und Nikita eingesehen haben, dass alles keinen Zweck hat? Dass sie eigentlich so etwas nicht tun konnten? Zumindest nicht dieses Kind? Nicht Anne-Maries Tochter?
Willem rief bei Nikita an. Cathy war am Apparat, dieses Mal kurz angebunden.
»Ich weiß nicht, wo Nikita ist. Er war letzte Nacht nicht zu Hause. Ich weiß auch nicht, wann er zurückkommt.«
Willem versuchte es bei Pia, bei der sich nur wieder der verflixte Anrufbeantworter meldete. Er besprach ihn nicht.
Am frühen Samstagmorgen riss das Telefon Willem aus dem Schlaf. Es war sechs Uhr früh.
»Will? Komm sofort! Nikita ist schwer verletzt.«
»Was?! – Nikita verletzt?!«
»Hewitt hat auf ihn geschossen.«
Bevor er einen Gedanken formulieren konnte, hatte Pia schon aufgelegt.